Mitarbeiter von Verkehrsbetrieben geben ihren Straßenbahnen manchmal einen Spitznamen. Auch in Mülheim hat das eine oder andere Fahrzeug einen Spitznamen erhalten. Seit 1997 gibt es in Mülheim einen Fahrzeugtyp, der als Hängebauchschwein“ bezeichnet wird. Wie es dazu kam, lassen wir uns von einer betroffenen Straßenbahn einmal selber erklären.
„Gestatten, mein Name ist „277“. So lautet eigentlich meine Betriebsnummer bei der Mülheimer Straßenbahn. Neben mir lebten fünf weitere Geschwister bei der Mülheimer Straßenbahn. Wir, 277 bis 281, haben alle 1977 bei der Düsseldorfer Waggonfabrik das Licht der Welt erblickt. Ich bin die Älteste von unserer Fahrzeugserie, wie die Techniker uns immer bezeichnen.
Mit Technikerworten möchte ich meine Schwestern und mich auch kurz beschreiben. Im Auslieferungszustand hatten wir eine Fahrzeuglänge von 19,7 m, eine Breite von 2,3 m und eine Höhe von 3,28 m. Mit unseren 28,6 t konnten wir bei einer Antriebsleistung von 2 x 150 kW 167 Fahrgäste befördern. Unsere technische Kurzbezeichnung lautete damals M6S. Das „S“ stand für Schützensteuerung, mit der uns der Fahrer in Bewegung setzen konnte.
Eigentlich sollten wir im Jahre 1977 zu sechs das Licht der Welt erblicken, aber unser kleiner Bruder, der Drehstromwagen 282, musste natürlich etwas ganz besonderes sein. Er erhielt als erste Straßenbahn weltweit eine Drehstromausrüstung. Dafür wurde er von vielen Menschen aus aller Welt bestaunt. Meine Schwestern und ich waren damals sehr neidisch auf ihn. Na ja, unser Bruder „282“ war schon immer etwas Außergewöhnliches.
Meine Schwestern und ich befuhren nach der Auslieferung alle Linien im Mülheimer Streckennetz. Dies taten wir anfangs ganz alleine, obwohl wir gekuppelt werden konnten. Erst mit der Einführung der Linie 102 in 1984 hatten wir Gelegenheit auch zusammen durch Mülheim fahren zu können. Dies war sehr angenehm, da wir uns während der Fahrt auch einmal unterhalten konnten.
Unser Bruder, der Wagen „282“, erhielt mittlerweile den Spitznamen „Blauer Klaus“. Dies geschah ihm nur recht, da er wie die fliegende Untertasse der Fernsehfigur Klaus (aus der Fernsehsendung „Der Große Preis“) nicht immer funktionierte wie er sollte. Klausi sagte dann immer: Meine Untertasse is putt! Und war traurig….
So gingen die Jahre ins Land und wir wurden von Jahr zu Jahr älter. Dabei mussten wir natürlich auch mal einen Unfall in Kauf nehmen. Am Schlimmsten ereilte es unsere Schwester „278“. Sie wurde bei einem Unfall mit einem LKW so sehr beschädigt, dass sie bei der Instandsetzung sogar ein Facelifting erhielt. Auf einer Fahrzeugseite sah sie jetzt aus wie unsere jüngeren Geschwister, die Drehstromwagen 283 – 294.
Mit zunehmendem Alter hatten unsere Techniker, die uns regelmäßig warteten und pflegten, mit uns ein Problem. Unsere elektrische Ausrüstung konnte nur noch teilweise wieder beschafft werden. So sollten wir mit unseren großen Geschwistern 271- 276 eine neue elektrische Ausrüstung (Chopper) erhalten. Meine Schwestern und ich sollten sogar noch wachsen und mit einem niederflurigen Mittelteil ausgerüstet werden.
Dieses Mittelteil hatte unser Bruder „282“ natürlich als erster erhalten und er konnte mit einer weiteren Außergewöhnlichkeit glänzen. Zwar wurde er wieder von der Fachwelt bestaunt, aber nur für kurze Zeit. Sein neues Mittelteil bekam ihm mit seiner einzigartigen Technik als Prototyp nicht wirklich und so mussten die Techniker ihn im Jahre 2005 ausmustern. Einige seiner Bauteile kamen uns zu Gute, ein Wagenkastenteil steht an einem Museum.
Durch einen Unfall sollte ich als erste modernisiert werden. Ich war sehr aufgeregt, als ich nach Mittenwalde, in der Nähe von Berlin gelegen, kam. Die Mittenwalder Gerätebau GmbH verlängerte mich um ca. 9 m. Während des Umbaus erhielt ich ein weißes Farbkleid. Mit dem weißen Farbanstrich hatte ich doch die Hoffnung in Mülheim als „Schneekönigin“ bezeichnet zu werden, wie dies vor längerer Zeit auch einem Autotyp mit diesem Farbanstrich passierte. Aber ich hatte mich leider getäuscht.
Als ich zurückkam hatte ich anfangs große Probleme mit meinem größeren Gewicht und so dauerte es fast ein Jahr, bis ich wieder Fahrgäste befördern durfte. Weiterhin musste ich in Kauf nehmen, dass ich nicht mehr in unsere Wellnessoase kommen konnte. Die Schiebebühne zur Hauptwerkstatt war leider zu kurz für mich. Aber meine Geschwister mussten diese Tatsache auch ertragen. So freundeten wir uns mit den Experten im Pflegetrakt an.
Nachdem wir seit 1977 im Einsatz standen bekam unsere Familie bis 1992 Zuwachs durch zwölf weitere Wagen mit Drehstromtechnik, die auf die Namen 283 bis 294 hörten. Nur 285 schaffte es noch nach Mittenwalde, da auch die Fahrzeuge dieser Serie verlängert werden sollten. Da sich der Umbau nicht bewährte, blieb 285 ein „Einzelkind“ bis zu seinem Ende in 2021.
Und dann kam der Tag, als wir unseren Spitznamen erhielten. Als ein Mitarbeiter zu einem Kollegen sagte: „Schau mal, die sieht aus wie ein Hängebauchschwein. Vorne und hinten oben und in der Mitte hängt was herunter.“
Man war ich sauer. Der Vergleich mit einem solchen Tier musste uns natürlich passieren. Zudem wurde der Spitzname noch ein Schimpfwort der Techniker, da wir mit unserer neuen Technik nicht immer zuverlässig unseren Dienst verrichten konnten.
Auch wenn unsere Technik mit unseren Pflegern, den Werkstattmitarbeitern, alt geworden ist, versuchten uns auch die Jungen fit zu halten. Die jungen Techniker scheinen auch die Liebe zu älteren Dingen entwickelt zu haben.
Unseren Familiennamen haben wir auch mehrmals gewechselt. Erst hießen wir Betriebe der Stadt Mülheim an der Ruhr, dann Mülheimer Verkehrsgesellschaft, es folgte die VIA, deren Mülheimer Teil wir waren und zum Schluss noch die Vermählung mit Essen zur Ruhrbahn GmbH.
Aber wie das Leben so spielt sind einige meiner Geschwister mittlerweile „vom Hof gefahren“. 280 ging nach einer Entgleisung vor einigen Jahren in Teilen an einen großen Hersteller als Ausstellungsstück, 279, 281 und 285 sind inzwischen im Straßenbahnhimmel angekommen. Nur noch 278 und ich drehten auf der Linie 102, ab und an auch auf der 112, ein paar letzte Runden. Da vertraten wir dann unsere jungen Geschwister. Im Oktober 2022 war damit Schluss für mich, nur 278 fuhr noch bis November.
Von den Straßenbahnfreunden habe ich mich als 277 bereits im September 2022 mit einer großen Rundfahrt verabschiedet. Meine Fahrer waren ganz lieb zu mir und haben mich nicht so gehetzt. Und erst die ganzen Bilder, die gemacht wurden. Wie bei einer Modenschau. Es war schön in Mülheim!
Wenn wir uns bei einer Fahrt in Mülheim nicht kennen gelernt haben, so sollten wir uns dann einmal in Schöneiche bei Berlin tun solange es geht. Dahin ging es für uns beide im Dezember 2022 bzw. Januar 2023. Der Verkehrsbetrieb Schöneiche-Rüdersdorfer-Straßenbahn (SRS) benötigte nach einigen, leider schweren Unfällen dringend und sehr kurzfristig Ersatz und wurde auf 278 und mich aufmerksam. Schnell wurde man sich einig und es kamen sehr lange Schwertransporter auf den Hof in Mülheim, luden uns auf und fuhren bei sehr kaltem Wetter mit uns nach Schöneiche. 600 Km in zwei Tagen! Kaum dort angekommen hieß es „Bügel an“ und die ersten Meter fahren. Unsere alten Logos ersetzte man durch den neuen Eigentümer und aus 277 und 278 wurde 77 und 78. Ich lernte als 77 die Strecke schon einmal kennen, stand aber neben der Halle und wartete auf eine Hauptuntersuchung. Danach konnte ich der 78 wieder Gesellschaft in der HVZ leisten, in der sie seit 01. März die Linie 88 verstärkte. Eigentlich sollte 78 schon früher starten, aber seine Gesundheit ließ ein wenig zu wünschen übrig. Die „Ärzte“ der SRS konnten ihn aber vollständig heilen und so eilte 78 nach der Schulung aller Fahrer nun durch unsere neue Heimat.
Leider hielt unser gemeinsames Glück nicht lange vor, obwohl wir angeblich beim Personal sehr beliebt waren! Trotzdem wir auf mancher „Fanseite“ immer wieder abwertend behandelt wurden. Am Morgen des 06.05.2024 begab sich der Wagen 78 zum Einsatz als Verstärkerkurs auf die Strecke. Bei einem außerplanmäßigen Halt prallte der direkt dahinter fahrende Wagen 48, ein ehemaliger Heidelberger GT6, mit einiger Geschwindigkeit auf den 78. Eine Seite des 48 wurde völlig deformiert und den 78 hat es scheinbar auch derb erwischt. Er steht immer noch neben der Werkstatthalle und wartet auf sein weiteres Schicksal. Den 48 konnte die Werkstatt mit einem Wagenteil des 47 inzwischen wieder auf die Strecke bringen.
Mit Glück kann ich, 77, dank der HU noch bis 2030 als letztes „Schweinchen“ aushelfen… Inzwischen soll auch, zumindest zum Probefahren, ein Niederflurwagen der 1. Generation aus Heidelberg kommen. Unsere Kopfform ist schon einmal gleich. Vielleicht kommen ja auch weitere jüngere Geschwister aus Essen von der Ruhrbahn am Ende des Jahrzehnts zu uns. Bis dahin bleibt uns oder zumindest mir das grausame Schicksal beim Schrotthändler erspart!
Nun muss ich aber leider Schluss machen, die Fahrgäste warten schon auf mich und ich will beim Ausfahren der 78 zuwinken.
Ansonsten behaltet uns in guter Erinnerung.
Tschüss und viele Grüße von Ihrer „277“ oder jetzt „77“.
Es war sehr schön in Mülheim, aber auch Brandenburg hat was! Glück auf!